Der Insider
Jeder Ägäis-Segler sollte wissen, wie und wo sie entstehen: Fallwinde

28.04.2016



Sie können tagsüber aus dem Meltemi Starkwind machen, pfeifen oft Berge herab. Doch besonders tükisch sind starke Fallböen, die nachts zuvor scheinbar ruhige Ankerplätze treffen. Wie die unbeliebten, überfallartigen Böen entstehen - und warum ausgerechnet nachts.


Hier ein typischer Fall, wie er an der türkischen Küste und auf den griechischen Inseln häufig vorkommt: Auf der Seekarte sieht die Ankerbucht perfekt aus: nahezu kreisrund, von Land umgeben, die nur schmale Einfahrt verspricht guten Schutz vor Seegang oder möglichen Winddrehern. So fällt die Entscheidung, die Nachtfahrt auf der griechischen Ägäis in der Bucht von Vathi auf der Insel Siphnos vor Anker zu beenden. Im Revierführer steht zwar etwas von möglichen nächtlichen Fallböen bei Meltemi, aber das scheint beherrschbar: Mit einer Stärke von etwa 3, selten 4 Beaufort ist der Meltemi zu diesem Zeitpunkt sehr schwach ausgeprägt.

Die Yacht wird also mit dem Bug in die Windrichtung gelegt, das Eisen sorgfältig eingefahren, und dann steckt die Crew sicherheitshalber 50 Meter Kette, obwohl beim Schlafengehen gegen Mitternacht alles ruhig ist. Doch kurz darauf geht es los.

Schlagartig treffen hammerharte Böen das Schiff. Sie pfeifen im Rigg, legen enorm in der Stärke zu, setzen wieder aus. Aus anfangs konstant vielleicht 3 Beaufort aus Nordost werden 5, dann 6, dann 7 Beaufort, die stärkste Bö bleibt mit 36 Knoten auf dem Windmesser stehen. Wäre kein allzugroßes Problem, wenn deren Richtungen nicht um nahezu 100 Grad springen würden: Mal drückt es schräg von vorn auf den Bug, dann schlagartig von schräg achtern aufs Heck. Die Folge: Das Boot beginnt wie wild zu schwoien, es ruckt mit metallischem Ächzen in die Kette ein. An Schlaf ist für die Crew im Vorschiff nicht zu denken.

Und für die anderen auch nicht. Das Risiko, dass der Anker ausbricht, scheint groß. Ein Blick von Skipper zu Co-Skipper, ein Seufzen, dann beginnt die wechselnde Ankerwache.

Schlaf ade. Eine dieser Nächte, nach denen man das Segeln einfach hasst.

Am nächsten Morgen steht die Sonne strahlend am Himmel, und wie zum Hohn lässt mit jeder Stunde Sonnenschein der Wind nach, bis das Boot gegen elf Uhr geradezu auf-reizend sanft in der Bucht dümpelt.



Die Ursachen für Fallwinde sind unterschiedlich - einerseits großräumige, andererseits lokale Gegebenheiten. Die Erstgenannten haben mit der höheren Strömungsgeschwindigkeit von Luft in größeren Höhen zu tun. Da dort die Luft nicht durch die Reibung an der Erdoberfläche oder dem Meer gebremst wird, strömt sie deutlich schneller als am Boden. Bekanntestes Beispiel dafür ist der Jetstream, der in großen Höhen auftritt.

Wird der Luftstrom durch Hindernisse von etwa 1000 Metern Höhe und mehr gestört, können an Berghängen „Pakete“ solcher schnell strömenden, kalten Luft in die unteren Schichten eindringen. Es entstehen Fallböen, die an den Hängen noch beschleunigt werden. Im großen Maßstab kennen Segler solche Phänomene von der kroatischen Bora, die aus den Bergen im Hinterland an die Küste herabrast, oder dem Mistral. Je höher die Berge, umso drastischer die Beschleunigung.

Doch das Phänomen gibt es auch räumlich sehr begrenzt, wie in unserem Beispiel auf Siphnos. Schon ab etwa 100 Metern Höhe der Felshindernisse können bei ablandiger Luftströmung solche Fallwindeffekte auftreten. Je steiler und höher die Erhebung an Land, umso stärker die Böen. Skipper tun also gut daran, bei solcher Topografie Anker, Muringleinen oder Festmacher entsprechend gut durchzusetzen.

Dass die Phänomene ausgerechnet nachts häufig verstärkt auftreten, hängt mit dem thermischen Geschehen über den Inseln zusammen. Tagsüber wird in der Sonne die Luft über der in der Ägäis oft kahlen Felslandschaft stark erwärmt. Erde und Fels erhitzen sich schneller als Seewasser, doch die Energie bleibt nur in einem schmalen oberflächennahen Bereich gespeichert. In der Folge steigt die warme Luft auf, und es kommt zunächst am Boden zu einem sogenannten Thermal, einer Warmluftblase. Wird diese groß genug, steigt sie auf, und es entsteht ein Mini-Tief, in das Luft nachströmt. Das schwächt den generellen Luftstrom des Meltemi an der Südwestseite der Insel (Gradient) ab.

Zwar wird auch tagsüber Luft beschleunigt, die über die Bergkante ins Tal strömt. Da sie aber deutlich wärmer und damit nicht so dicht ist und der entgegenwirkende thermische Luftstrom hinzukommt, ist der Effekt abgeschwächt - es sei denn, der Meltemi legt tagsüber stark zu. Bilden sich direkt über einer Insel im Laufe des Tages Quellwolken, so ist dies ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Luft dort stark aufsteigt und in der Höhe schnell zu Wolken kondensiert. Je größer die Temperaturunterschiede sind - zwischen Tag und Nacht oder Land und Meer -, umso größer ist auch das Böenpotenzial.

Nachts führt die schnellere Abkühlung der Felsen im Vergleich zum Meer dazu, dass sich das Geschehen umkehrt. Es weht der thermische Landwind von der Insel weg, addiert sich in diesem Fall noch zum Gradient- Wind, dem Meltemi.

Hinzu kommt, dass sich an dem Höhengrat der jeweiligen Insel die Luft rasch abkühlt (pro 100 Meter Höhe herrschen bis zu einem Grad Temperaturunterschied) und sich dort teilweise vom Berggrat behindert staut. Der darüberziehende Meltemi „schiebt“ dann immer mal wieder Kaltluftpakete als Störungen oder Wellen über den Berggrat, die dann den Hang herunter„fallen“ und beschleunigt die Yacht treffen.